(Stuttgart) Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in seiner Entscheidung vom 7. Februar 2024 (Az.: 5 AZR 177/23) wesentliche Leitlinien zur Thematik des Annahmeverzugslohn und des böswilligen Unterlassens anderweitigen Verdienstes festgelegt. Diese Entscheidung hat weitreichende Implikationen für Arbeitnehmer, die nach einer ungerechtfertigten Kündigung Ansprüche auf Annahmeverzugslohn geltend machen wollen.
Der Frankfurter Fachanwalt für Arbeitsrecht Meinolf Nierhof, Mitglied im VDAA – Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e. V. mit Sitz in Stuttgart, beleuchtet die wichtigsten Aspekte der Entscheidung und gibt praktische Tipps, wie Arbeitnehmer ihre Rechte effektiv wahren können.
- Annahmeverzugslohn und böswilliges Unterlassen – Grundlegende Konzepte
Der Annahmeverzugslohn kommt zum Tragen, wenn ein Arbeitnehmer nach einer unwirksamen Kündigung durch den Arbeitgeber nicht beschäftigt wird, aber dennoch Anspruch auf Gehaltszahlung hat. Dabei muss der Arbeitnehmer jedoch Einkünfte, die er in diesem Zeitraum durch andere Arbeit hätte erzielen können, auf seinen Annahmeverzugslohn anrechnen lassen, sofern er diese Einkünfte böswillig unterlassen hat (§ 11 Nr. 2 KSchG).
- Die Entscheidung des BAG im Überblick
Das BAG hat in seiner Entscheidung mehrere wesentliche Punkte klargestellt:
- Gesamtabwägung zur Beurteilung der Böswilligkeit: Die Böswilligkeit des Unterlassens anderweitigen Verdienstes wird im Rahmen einer umfassenden Gesamtabwägung beurteilt. Hierbei spielen die Verletzung sozialrechtlicher Handlungspflichten, wie die Pflicht zur Arbeitsuchendmeldung (§ 38 Abs. 1 SGB III) und die aktive Mitarbeit zur Vermeidung oder Beendigung der Arbeitslosigkeit (§ 2 Abs. 5 SGB III), eine Rolle.
- Kein unermüdliches Bemühen um Arbeit erforderlich: Der Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, sich unermüdlich um eine zumutbare Arbeit zu kümmern. Dies wäre unverhältnismäßig und würde dem Grundsatz der Billigkeit, wie in § 615 Satz 2 BGB verankert, widersprechen. Eine Gesamtabwägung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben (§ 242 BGB) und dem Grundrecht auf freie Arbeitsplatzwahl (Art. 12 GG) ist erforderlich.
- Zumutbarkeit anderweitiger Arbeit: Die Zumutbarkeit einer anderweitigen Arbeit wird nach den konkreten Umständen des Einzelfalls beurteilt. Eine erhebliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen muss der Arbeitnehmer grundsätzlich nicht hinnehmen. Ein geringerer Verdienst allein macht eine Tätigkeit jedoch nicht unzumutbar.
- Nettoverdienst und Arbeitslosengeld: Eine Tätigkeit, bei der der zu erzielende Nettoverdienst unter dem Arbeitslosengeld I läge, ist während des Bezugszeitraums dieser Leistung nicht als zumutbar anzusehen.
- Sekundäre Darlegungslast des Arbeitnehmers: Der Arbeitnehmer muss im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast nachweisen, dass er sich arbeitsuchend gemeldet und Vermittlungsangeboten sachgerecht nachgegangen ist. Andernfalls kann ihm vorsätzliche Untätigkeit vorgeworfen werden.
- Fallbeispiel: Die Entscheidung des BAG im DetailSachverhalt
In dem vom BAG entschiedenen Fall stritten die Parteien über Vergütung wegen Annahmeverzugs für die Zeit vom 1. Januar 2018 bis zum 30. August 2020. Der Kläger, ein seit 1991 bei der Beklagten beschäftigter Maschinenbeschicker ohne abgeschlossene Berufsausbildung, wurde am 23. November 2017 außerordentlich, hilfsweise ordentlich gekündigt. Das Arbeitsgericht wies die Kündigungsschutzklage zunächst ab. Das Landesarbeitsgericht stellte jedoch fest, dass das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst wurde, und gab dem Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers statt.
- Argumente der Parteien
Arbeitnehmer (Kläger):
Der Kläger machte geltend, dass er seinen sozialrechtlichen Handlungspflichten nachgekommen sei, indem er sich arbeitsuchend gemeldet habe. Weitere Bemühungen seien nicht erforderlich gewesen, da die Agentur für Arbeit keine entsprechenden Anforderungen gestellt habe. Er habe sich auch initiativ um einen anderen Arbeitsplatz bemüht, leider ohne Erfolg.
Arbeitgeber (Beklagte):
Die Beklagte argumentierte, der Kläger habe es böswillig unterlassen, anderweitigen Verdienst zu erzielen. Angesichts der geringen Arbeitslosenquote hätte der Kläger ab Dezember 2017 eine zumutbare Beschäftigung finden können. Eine konkrete Arbeitsmöglichkeit habe die Beklagte nicht aufzeigen müssen; der Kläger hätte nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast darlegen müssen, dass er keine Stelle finden konnte.
- Entscheidungsgründe des BAG
Das BAG hob das Urteil des Landesarbeitsgerichts auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurück. Es stellte fest, dass das Landesarbeitsgericht die Gesamtabwägung der beiderseitigen Interessen nicht hinreichend vorgenommen habe. Insbesondere habe das Landesarbeitsgericht nicht berücksichtigt, dass der Kläger durch seine Äußerungen gegenüber der Agentur für Arbeit die Ursache dafür gesetzt habe, dass ihm keine Vermittlungsvorschläge unterbreitet wurden.
- Zentrale Erwägungen des BAG
- Verletzung sozialrechtlicher Handlungspflichten: Eine Verletzung der sozialrechtlichen Handlungspflichten, wie die Arbeitsuchendmeldung und die aktive Mitarbeit zur Beendigung der Arbeitslosigkeit, kann im Rahmen der Gesamtabwägung zur Beurteilung der Böswilligkeit berücksichtigt werden.
- Unzumutbarkeit gering vergüteter Tätigkeiten: Tätigkeiten, deren Nettoverdienst unter dem Arbeitslosengeld I liegt, sind während des Bezugszeitraums nicht zumutbar. Dies gilt auch, wenn der Arbeitnehmer durch eine solche Tätigkeit finanziell schlechter gestellt wäre als durch den Bezug von Arbeitslosengeld.
- Sekundäre Darlegungslast und Beweislast: Der Arbeitnehmer muss nachweisen, dass er sich arbeitsuchend gemeldet hat und Vermittlungsangeboten sachgerecht nachgegangen ist. Der Arbeitgeber trägt die Beweislast dafür, dass der Arbeitnehmer böswillig anderweitigen Verdienst unterlassen hat.
- Zumutbarkeit der Arbeitsbedingungen: Die Zumutbarkeit einer anderweitigen Tätigkeit beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. Eine erhebliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen muss der Arbeitnehmer nicht hinnehmen.
- Praktische Tipps für Arbeitnehmer
Auf Grundlage der BAG-Entscheidung sollten Arbeitnehmer nach einer Kündigung folgende Punkte beachten:
- Arbeitsuchendmeldung: Melden Sie sich sofort nach Erhalt der Kündigung bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend, um sozialrechtliche Nachteile zu vermeiden.
- Aktive Arbeitsuche: Bemühen Sie sich aktiv um eine neue Beschäftigung und dokumentieren Sie Ihre Bewerbungsbemühungen sorgfältig. Dies ist wichtig, um Ihrer sekundären Darlegungslast nachzukommen.
- Kommunikation mit der Agentur für Arbeit: Vermeiden Sie Äußerungen gegenüber der Agentur für Arbeit, die den Eindruck erwecken könnten, dass Sie nicht ernsthaft an einer neuen Beschäftigung interessiert sind.
- Zumutbare Arbeitsangebote: Prüfen Sie zumutbare Arbeitsangebote sorgfältig und lehnen Sie diese nicht leichtfertig ab. Eine erhebliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen müssen Sie jedoch nicht hinnehmen.
- Rechtliche Beratung: Ziehen Sie bei Unsicherheiten eine rechtliche Beratung in Betracht, um Ihre Ansprüche und Pflichten genau zu verstehen und Fehler zu vermeiden.
- Fazit
Die Entscheidung des BAG vom 7. Februar 2024 bietet wichtige Leitlinien zur Beurteilung des böswilligen Unterlassens anderweitigen Verdienstes im Kontext des Annahmeverzugs. Arbeitnehmer sollten sich der Anforderungen bewusst sein und entsprechend handeln, um ihre Rechte effektiv zu wahren und finanzielle Nachteile zu vermeiden. Die sorgfältige Dokumentation aller Bemühungen und eine klare Kommunikation mit der Agentur für Arbeit sind dabei von entscheidender Bedeutung.
Nierhof empfahl, die Entscheidung zu beachten und in Zweifelsfällen rechtlichen Rat einzuholen, wobei er u. a. dazu auch auf den VDAA-Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e. V. – www.vdaa.de – verwies.
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