(Stuttgart) Beschäftigungszeiten von Arbeitnehmern, die vor der Vollendung ihres 25. Lebensjahres liegen, müssen bei der Berechnung der Kündigungsfrist berücksichtigt werden. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB stellt eine Diskriminierung wegen des Alters dar.

Darauf verweist der Düsseldorfer Fachanwalt für Arbeitsrecht Karsten Haase, Leiter des Fachausschusses „EU-Arbeitsrecht“ des VdAA Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e. V. mit Sitz in Stuttgart unter Hinweis auf das ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 19.01.2010, Az.: C-555/07.

Ab sofort dürfen deutsche Gerichte die seit 1926 geltende Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB nicht mehr anwenden. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB besagt, dass bei der Berechnung von Kündigungsfristen die Beschäftigungszeiten eines Arbeitnehmers, die vor der Vollendung seines 25. Lebensjahres liegen, nicht berücksichtigt werden dürfen. Diese Regelung verstößt, wie der EuGH nunmehr entschieden hat, gegen das europarechtliche Verbot der Diskriminierung wegen Alters. Denn es stelle eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung dar, wenn Beschäftigungszeiten jüngerer Arbeitnehmer, die vor der Vollendung ihres 25. Lebensjahres liegen, anders – nämlich gar nicht – berücksichtigt werden, als Beschäftigungszeiten anderer Arbeitnehmern, die nach der Vollendung ihres 25. Lebensjahres ein Arbeitsverhältnis begründet haben. Nach § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB würden also Arbeitnehmer, die eine gleiche Betriebszugehörigkeit aufweisen, unterschiedlich behandelt, je nachdem, in welchem Lebensalter sie in den Betrieb eingetreten sind.

Was war geschehen?

Eine 28jährige Düsseldorferin war seit ihrem 18. Lebensjahr bei einem privaten Arbeitgeber in Essen beschäftigt. Nach 10 Jahren wurde ihr das Arbeitsverhältnis gekündigt – und zwar unter Verweis auf § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB mit einer Kündigungsfrist von 1 Monat zum Ende eines Kalendermonats. Hätte jedoch die gesamte Beschäftigungszeit von 10 Jahren Berücksichtigung gefunden, so hätte sich eine Kündigungsfrist von 4 Monaten zum Ende eines Monats ergeben – und somit also auch Ansprüche auf Zahlung von Gehalt für weitere 3 Monate. Die Arbeitnehmerin wollte dies nicht hinnehmen und erhob Klage vor dem Arbeitsgericht.

In zweiter Instanz setzte das LAG Düsseldorf als zuständiges Berufungsgericht den Rechtsstreit aus und rief den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 2 AEUV (ehemals Art. 234 EG-Vertrag) an. Gegenstand dieses Verfahrens war die Auslegung des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters und der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303, S. 16). Das LAG Düsseldorf hatte festgestellt, dass die Umsetzungsfrist für die Richtlinie 2000/78/EG zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung bereits abgelaufen gewesen war. Es hatte weiter ausgeführt, dass § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters enthalte. Von der Verfassungswidrigkeit dieser Norm, also von einem Verstoß gegen das Grundgesetz, war es jedoch nicht überzeugt, sodass es § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB nicht der Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens zur Prüfung vorlegte.

Für das LAG Düsseldorf war aber die Vereinbarkeit von § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB mit dem EU-Recht zweifelhaft. Dabei sah es als fraglich an, ob die Frage einer unmittelbaren Diskriminierung wegen Alters aufgrund des Primärrechts der EU nahe liege, oder aber anhand der Richtlinie 2000/78/EG zu beurteilen sei. Da die Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB von ihrem Wortlaut her eindeutig und klar sei und sich daher einer richtlinienkonformen Auslegung entziehe, stellte sich für das LAG Düsseldorf die Frage, ob es, um § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten unangewendet lassen zu können, verpflichtet sei, zunächst ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH einzuleiten, um sich auf diesem Weg die Unvereinbarkeit von § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB mit dem EU-Recht bestätigen zu lassen.

Wie hat der EuGH entschieden? 

  • Diskriminierung wegen Alters? 

Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 19.02.2010 dahingehend entschieden, dass das Unionsrecht, insbesondere das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78/EG, dahin auszulegen sei, dass es einer Regelung wie der des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB entgegenstehe, nach der vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegende Beschäftigungszeiten des Arbeitnehmers bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt werden.

Dabei war für den EuGH das Ziel der Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB, nämlich dem Arbeitgeber eine größere personalwirtschaftliche Flexibilität zu verschaffen, indem seine Belastung im Zusammenhang mit der Entlassung jüngerer Arbeitnehmer verringert werde, denen eine größere berufliche und persönliche Mobilität zugemutet werden könne, nicht weiter entscheidungserheblich. Denn nach Ansicht des EuGH stelle die Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB keine im Hinblick auf die Erreichung dieses Ziels angemessene Maßnahme dar, weil sie für alle Arbeitnehmer, die vor Vollendung des 25. Lebensjahrs in den Betrieb eingetreten sind, unabhängig davon gelte, wie alt sie zum Zeitpunkt ihrer Entlassung seien.

Weiterhin ließ der EuGH auch den weiteren im Verfahren vorgetragenen Zweck des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB, nämlich die Verstärkung des Schutzes der Arbeitnehmer entsprechend der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit, nicht gelten. Denn die Verlängerung der Kündigungsfrist entsprechend der Beschäftigungsdauer eines Arbeitnehmers verzögere sich nach dieser Regelung für einen Arbeitnehmer, der vor der Vollendung seines 25. Lebensjahrs in einen Betrieb eingetreten ist, selbst wenn er bei seiner Entlassung eine lange Betriebszugehörigkeit aufweisen sollte. So könne § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB daher auch nicht als zur Erreichung dieses Ziels geeignet angesehen werden.

Schließlich war für den EuGH auch ein zu berücksichtigendes Kriterium, dass § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB nicht nur jüngere Arbeitnehmer gegenüber älteren Arbeitnehmern ohne sachlichen Grund ungleich behandele, sondern auch dass § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB junge Arbeitnehmer ungleich behandele, weil sie diejenigen jungen Menschen treffe, die ohne oder nach nur kurzer Berufsausbildung früh eine Arbeitstätigkeit aufnehmen, nicht aber die, die nach langer Ausbildung später in den Beruf eintreten.  

  • Unanwendbarkeit einer gegen EU-Recht verstoßenden nationalen Vorschrift nur nach Vorlage an den EuGH?  

Der EuGH hat des weiteren entschieden, dass es einem nationalen Gericht, also z. B. dem LAG Düsseldorf, obliege, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten die Beachtung des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78/EG zu gewährleisten, indem es erforderlichenfalls entgegenstehende Vorschriften des innerstaatlichen nationalen Rechts unangewendet lasse. Dies gelte unabhängig davon, ob es von seiner Befugnis Gebrauch mache, in den Fällen des Art. 267 Abs. 2 AEUV den EuGH um eine Vorabentscheidung über die Auslegung dieses Verbots zu ersuchen. 

Nach Auffassung des EuGH obliege es nämlich einem nationalen Gericht, bei dem ein Rechtsstreit über das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 anhängig sei, im Rahmen seiner Zuständigkeiten den rechtlichen Schutz, der sich für den Einzelnen aus dem EU-Recht ergebe, sicherzustellen und die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten. Hierzu gehöre es auch, erforderlichenfalls jede diesem Verbot entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen.

Ein nationales Gericht, so z. B. das LAG Düsseldorf, das in einem Rechtsstreit unter Privaten eine Bestimmung nationalen Rechts unangewendet lassen will, weil sie nach seiner Auffassung gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78/EG verstoße, sei nach Ansicht des EuGH aber nicht verpflichtet, zuvor den EuGH um Vorabentscheidung über die Auslegung des EU-Rechts zu ersuchen. Denn die Notwendigkeit, die volle Wirksamkeit des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78/EG zu gewährleisten, bedeute nach Auffassung des EuGH, so Haase, dass das nationale Gericht eine in den Anwendungsbereich des EU-Rechts fallende nationale Bestimmung, die es für mit diesem Verbot unvereinbar halte und die einer EU-rechtskonformen Auslegung nicht zugänglich sei, unangewendet lassen müsse. Dabei sei das nationale Gericht nicht verpflichtet zuvor den EuGH um Vorabentscheidung zu ersuchen und zwar auch dann nicht, wenn das nationale Recht, wie z. B. in der Bundesrepublik Deutschland, es einem Gericht nicht erlaube, eine nationale Bestimmung, die es für verfassungswidrig hält, unangewendet zu lassen, wenn sie nicht zuvor von einem nationalen Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden sei. Dies ergebe sich aus dem Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts, der auch dem Verbot der Diskriminierung wegen des Alters zukommt. Dieser besage, dass eine EU-rechtswidrige Regelung, die in den Anwendungsbereich des EU-Rechts falle, unangewendet zu bleiben habe.Ein nationales Gericht sei daher in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten nicht verpflichtet, wohl aber berechtigt, den EuGH um eine Vorabentscheidung über die Auslegung des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78/EG zu ersuchen, bevor es eine Bestimmung des nationalen Rechts, die es für mit diesem Verbot unvereinbar hält, unangewendet lasse.

  • Welche Bedeutung hat diese Entscheidung? 

Dass der EuGH § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB für mit dem EU-Recht nicht vereinbar halten würde, war in Fachkreisen längst kein Geheimnis mehr, so Haase. Spätestens seit den Schlussanträgen des Generalanwalts Y. Bot in diesem Verfahren musste dies auch den letzten Zweiflern klar geworden sein.

Die die Entscheidung des EuGH vom 19.01.2010 ist, worauf Haase hinweist, von enormer Tragweite, deren Umfang in vielfältiger Hinsicht zurzeit noch gar nicht absehbar ist. 

  • Verfassungsrecht

Haase weist darauf hin, dass die Entscheidung des EuGH zunächst von erheblicher verfassungsrechtlicher Bedeutung ist. 

Denn mit dieser Entscheidung wird die schon seit langem schwelende Diskussion neu angeheizt werden, in welchem Verhältnis die Kompetenzen des EuGH zum deutschen Bundesverfassungsgericht stehen. Kritiker des EuGH sind der Ansicht, dass alleine das Bundesverfassungsgericht Regelungen des nationalen deutschen Rechts verwerfen darf. Wie Haase meint, hat der EuGH nun den einzelnen nationalen Instanzgerichten den Weg eröffnet, in Rechtsstreitigkeiten Privater betreffend das Verbot der Diskriminierung wegen Alters, am Bundesverfassungsgericht vorbei selber gesetzliche Vorschriften unangewendet zu lassen, sofern diese Instanzgerichte von der Unvereinbarkeit mit EU-Recht ausgehen. Letztlich bedeutet dies die Zuweisung einer eigenen „Verwerfungskompetenz“ an nationale Instanzgerichte und, wie Haase meint, eine „Aushebelung“ des deutschen Verfassungsrechts mittels des EU-Rechts, zumindest des EU-Primärrechts.

Nach Ansicht von Haase dürfte somit die bisherige und nun erneut angeheizte Diskussion daher auch eine neue rechts- und verfassungspolitische Dimension auf nationaler und europäischer Ebene erhalten.

Man darf auch gespannt sein, ob einzelne nationale Instanzgerichte mit dieser neu gewonnenen Befugnis sachgerecht und kompetent umzugehen vermögen, was natürlich ein gerüttelt Maß an Kenntnis des EU-Rechts voraussetzt. Auch bleibt abzuwarten, ob einzelne nationale Instanzgerichte sich auch des hohen Maßes an Verantwortung gerecht zeigen werden, mit dieser ihnen eingeräumten eigenen „Verwerfungskompetenz“ umzugehen, sehenden Auges dabei im Zweifel auch das Bundesverfassungsgericht außen vor zu lassen. Unterschiedliche Instanzgerichte können zudem zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, sodass zudem – so Haase – durchaus auch eine Rechtszersplitterung von verfassungsrechtlicher Dimension eintreten könne. 

  • Arbeitsrecht 

Die Entscheidung des EuGH hat dabei – natürlich – auch für das deutsche Arbeitsrecht eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, die zurzeit in ihrer vollen Bandbreite noch nicht abgeschätzt werden kann, worauf Haase hinweist. Schon jetzt lassen sich aber einige Auswirkungen der Entscheidung des EuGH auf das deutsche Arbeitsrecht aufzeigen.

Für viele – insbesondere jüngere – Arbeitnehmer verlängern sich die Kündigungsfristen. Arbeitgeber stehen somit zugleich auch in der Verantwortung, im Rahmen von längeren Kündigungsfristen auch länger Gehalt zu zahlen. Gegebenenfalls sehen sich Arbeitgeber hier in der Pflicht, im Eigeninteresse Rücklagen zu bilden. 

Die längere Kündigungsfrist bedeutet zugleich für den Arbeitnehmer auch einen höheren sozialen Besitzstand, der sich u. a. in Form einer höheren Abfindung bei Beendigung von Arbeitsverhältnissen „auszahlen“ kann. Denn die Dauer der Betriebszugehörigkeit ist eines der entscheidenden Kriterien für die Berechnung einer Abfindung. Zugleich ist die Dauer der Betriebszugehörigkeit nach § 1 Abs. 3 KSchG aber auch eines der entscheidenden Kriterien der Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen. So sind es in der Regel jüngere Arbeitnehmer, die aufgrund ihrer kürzeren Betriebszugehörigkeit eher das Unternehmen verlassen müssen als ältere. 

Auch dürften nun Tarifverträge „durchforstet“ werden, da in vielen Tarifverträgen auf die gesetzlichen Kündigungsfristen Bezug genommen wird. Gleiches gilt auch für Sozialpläne sowohl hinsichtlich der Länge der Kündigungsfristen als auch in puncto Berechnung einer Abfindung. 

Haase empfahl, das Urteil des EuGH unbedingt zu beachten und bei aufkommenden Fragen dazu Rechtsrat in Anspruch zu nehmen, wobei er u. a. auf den VdAA Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e. V. – www.vdaa.de – verwies. 

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Karsten Haase
Rechtsanwalt / Fachanwalt für Arbeitsrecht / Mediator
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