(Stuttgart) Der Europäische Gerichtshof hat am 19.01.2010 entschieden, dass die Regelung in § 622 Abs. 2 S. 2 BGB, wonach bei Berechnung der Kündigungsfristen die Zeiten vor dem 25. Lebensjahr des Arbeitnehmers nicht berücksichtigt werden, gemeinschaftsrechtswidrig ist (EuGH, C-555/07).
Nach dieser Entscheidung, so der Münchner Fachanwalt für Arbeitsrecht Christoph J. Hauptvogel aus der Kanzlei Graf von Westphalen, Vizepräsident des VdAA – Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e. V. mit Sitz in Stuttgart, liegt eine Ungleichbehandlung vor, die auf dem Kriterium des Alters beruht und deshalb unzulässig ist. Der EuGH hat weiter entschieden, dass die Vorschrift aus dem BGB in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten – also Arbeitnehmern und Arbeitgebern – von den deutschen Gerichten nicht anzuwenden ist.
- Problemstellung
Die vom Arbeitgeber zu beachtende Kündigungsfrist verlängert sich nach § 622 BGB mit der Beschäftigungsdauer des zu entlassenden Arbeitnehmers. Beschäftigungszeiten vor der Vollendung des 25. Lebensjahres sollen hierbei nach § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB nicht berücksichtigt werden. Der EuGH hat dieses gesetzgeberische Konzept nun insoweit umgeworfen, als bei der Berechnung der Kündigungsfristen Zeiten vor dem 25. Lebensjahr mitgezählt werden müssen.
Der Ausgangsfall macht die Bedeutung dieser neuen Rechtsprechung deutlich:
Gekündigt wurde eine Arbeitnehmerin mit einer Betriebszugehörigkeit von 10 Jahren, die seit ihrem 18. Lebensjahr bei ihrem Arbeitgeber beschäftigt war. Dieser Arbeitgeber hatte in Anwendung der deutschen Gesetzesbestimmung die Zeiten zwischen dem 18. und dem 25. Lebensjahr nicht berücksichtigt und auf diese Weise eine Kündigungsfrist von einem Monat ermittelt. Die gekündigte Arbeitnehmerin wollte die sieben Jahre vor ihrem 25. Lebensjahr berücksichtigt wissen und beanspruchte somit eine Kündigungsfrist von vier Monaten. Der EuGH hat ihr Recht gegeben und somit – entgegen dem deutschen Gesetzesrecht – die Kündigungsfrist im praktischen Fall glatt vervierfacht!
- Begründung des Gerichts
Es liegt nach Auffassung des EuGH ein Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung wegen Alters vor, da jüngere Arbeitnehmer durch die deutsche Vorschrift generell schlechter gestellt werden. Eine – theoretisch denkbare – Rechtfertigung der Ungleichbehandlung hat der EuGH abgelehnt.
Von größerer Bedeutung ist die Begründung des EuGH für die Unanwendbarkeit des nationalen Rechts. Der EuGH stützt sich hier auf einen allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz (konkretisiert durch eine europäische Richtlinie) und bejaht eine Notwendigkeit, die volle Wirksamkeit des Verbots der Altersdiskriminierung zu gewährleisten. Ein nationales Gericht muss eine nationale Gesetzesbestimmung dann unangewendet lassen, wenn es in den Anwendungsbereich des Europarechts fällt. Entscheidend ist nun, dass dies nach dem EuGH bereits dann der Fall ist, wenn die nationale Regelung einen Bereich erfasst, der in den Anwendungsbereich einer europäischen Richtlinie fällt. Angesichts der weitreichenden Zuständigkeiten der europäischen Rechtssetzungsorgane dürfte damit einem umfassenden europarechtlichen Zugriff auf nationales Arbeitsrecht Tür und Tor geöffnet sein.
- Praktische Bedeutung der Entscheidung
Der EuGH hat durch seine Entscheidung im Ergebnis eine neue Rechtslage geschaffen, die bereits für sich genommen von hoher Bedeutung ist. In Zukunft muss nun bei jeder Kündigung eines Arbeitnehmers, die Kündigungsfrist auch unter Einbeziehung der Beschäftigungszeiten vor dem 25. Lebensjahres berechnet werden. Personalabbaumaßnahmen können deshalb nun im Einzelfall sehr viel unflexibler bzw. teurer werden, da während des Laufs der Kündigungsfrist der gekündigte Arbeitnehmer selbstverständlich weiter bezahlt werden muss. Ein Beschäftigter, der seine Ausbildung mit 15 Jahren begonnen hat und dann in ein Arbeitsverhältnis übernommen wurde, hat nun mit 25 Jahren eine Beschäftigungszeit von 10 Jahren und somit Anspruch auf die Wahrung einer Kündigungsfrist von vier Monaten. Nach der bisherigen Rechtslage konnte er zum Zeitpunkt der Vollendung seines 25. Lebensjahres (und auch noch bis zu zwei weiteren Jahren) mit der Grundkündigungsfrist (vier Wochen zum 15. oder zum Ende eines Kalendermonats) gekündigt werden.
Rechtsanwalt Hauptvogel weist daraufhin, dass die neue Berechnung von Kündigungsfristen auch bei der Kündigung von Dienstverträgen von GmbH-Geschäftsführern Bedeutung erlangen kann. Diese sind zwar keine Arbeitnehmer und werden zumeist nicht vor dem 25. Lebensjahr bereits als Geschäftsführer tätig. Die Vorschrift des § 622 BGB wird aber auf die Berechnung der Kündigungsfrist von (nicht herrschenden) Geschäftsführern entsprechend angewandt. Außerdem kommt es oft vor, dass ein Geschäftsführer zuvor im Unternehmen als Arbeitnehmer tätig war. Eine evtl. Vorbeschäftigung als Arbeitnehmer (bzw. die Zeiten als Geschäftsführer) muss nun bei der Berechnung der Kündigungsfrist eines Geschäftsführerdienstvertrages durch die Gesellschaft auch dann berücksichtigt werden, wenn diese vor dem 25. Lebensjahr erfolgte. Für die Kündigung von (befristet angestellten) AG-Vorstände durch die Gesellschaft gilt nach überwiegender Auffassung dasselbe, falls eine ordentliche Kündigung ausnahmsweise möglich ist.
Ganz unmittelbar folgt aus der vom EuGH geschaffenen neuen Gesetzeslage auch eine Anpassungspflicht hinsichtlich der Tarifverträge, die die Regelung des § 622 BGB unverändert übernommen haben.
- Ausblick
Aufgrund der nahezu grenzenlosen Allgemeinheit des Begründungsansatzes des EuGH ist laut Rechtsanwalt Hauptvogel davon auszugehen, dass in Zukunft weitere Vorschriften des deutschen Arbeitsrechtes einer Kontrolle durch die europäische Rechtsprechung unterzogen werden. „Der alte Satz „Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung“ hat unter dem Einfluss des Europarechts somit im Arbeitsrecht wohl weitgehend ausgedient“, meinte Rechtsanwalt Hauptvogel. Europäische Rechtsprechung wird auch in Zukunft auf die nationale Gesetzgebung im Arbeitsrecht nahezu uneingeschränkt Zugriff nehmen wird, so der Vizepräsident des VdAA weiter.
Rechtsanwalt Hauptvogel weist in diesem Zusammenhang auf weitere folgende Problemstellungen hin:
Die Regelung des § 1 b des Gesetzes über die betriebliche Altersversorgung schreibt die Unverfallbarkeit von Versorgungsanwartschaften erst ab einem Lebensalter von 25 Jahren vor. Hierzu liegt zwar noch keine Rechtsprechung des EuGH vor. Es kann laut Rechtsanwalt Hauptvogel aber nicht ausgeschlossen werden, dass diese Regelung europarechtlich nicht zu halten sein wird.
Teilweise wird sogar erwogen, ob nicht der Ausschluss des allgemeinen Kündigungsschutzgesetzes im Kleinbetrieb („Kleinbetriebsklausel“) europarechtlich gleichheitswidrig ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die Gleichheitswidrigkeit in der Vergangenheit verneint. Der EuGH wäre daran aber – aus seiner Sicht – keinesfalls gebunden. Die weitere Entwicklung ist unmittelbar praxisrelevant und unbedingt im Auge zu behalten.
Rechtsanwalt Hauptvogel empfahl, diese Grundsätze zu beachten sowie in Zweifelsfällen um Rechtsrat nachzusuchen, wobei er u. a. dazu auch auf den VdAA Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e. V. – www.vdaa.de – verwies. Die Beobachtung und kritische Begleitung aktueller und praxisrelevanter Rechtsentwicklungen im Arbeitsrecht bildet einen der Arbeitsschwerpunkte des Verbandes.
Für Rückfragen steht Ihnen der Autor gerne zur Verfügung:
Christoph J. Hauptvogel
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht
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