Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 07.12.2018 – 17 Ca 3724/18 – abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Die Parteien streiten darüber, ob ihr Arbeitsverhältnis aufgrund einer außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist sein Ende gefunden hat.
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Die am ….1967 geborene Klägerin ist seit dem 15. August 1991 bei der beklagten Gewerkschaft als Verwaltungsangestellte gegen ein Bruttomonatsentgelt von zuletzt 3.128,00 € beschäftigt. Sie ist einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.
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Die Klägerin ist alkoholabhängig. Vom 02.10.2014 bis 25.12.2014 führte sie eine Entwöhnung durch. In diesem Jahr war sie an 242 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt. Im Jahr 2015 war die Klägerin 185 Arbeitstagen arbeitsunfähig. Am 01.12.2015 trat die „Gesamtbetriebsvereinbarung zur Betrieblichen Suchtprävention und Suchthilfe“ (GBV Sucht) in Kraft, die ein Gesprächsmodell in 5 Stufen vorsieht (Anl. B5, Bl. 32ff der Akte).
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In den Jahren 2016 und 2017 war die Klägerin durchgängig erkrankt. Unter dem
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14.01.2016 wurden der Klägerin 2 Abmahnungen zugesandt (Kopie Bl. 57 der Akte), wobei die Klägerin bestreitet, eine der beiden Abmahnungen erhalten zu haben. Am 11.04.2016 brach die Klägerin eine Entziehungskur ab. Am 22.08.2016 fand ein so genanntes 3. Gespräch auf Basis der GBV Sucht statt. Mit Schreiben vom 21.10.2016 wurde die Klägerin zu einem 4. Gespräch am 18.11.2016 eingeladen. Über den Betriebsrat ließ die Klägerin mitteilen, dass sie nicht kommen werde. Am 02.03.2017 wurde die Klägerin erneut zu einem 4. Gespräch am 23.03.2017 eingeladen. Hierzu erschien sie nicht. Am 21.04.2017 fand ein 5. Gespräch statt. Am 14.06.2017 begann die Klägerin eine Entwöhnungstherapie, die bis zum 12.10.2017 andauerte.
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Vom 16.10.2017 bis 04.01.2018 wurde mit der Klägerin ein Praktikum zur Eingewöhnung durchgeführt. Am 05.01.2018 nahm die Klägerin ihre Arbeit wieder auf. Ab dem 15.01.2018 war sie arbeitsunfähig erkrankt. Am 22.01.2018 lieferte der Sohn der Klägerin diese wegen Alkoholmissbrauchs in eine Klinik ein.
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Mit der Klägerin fanden Gespräche zum betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) am 29.04.2014, 15.01.2015, 24.03.2015 und 21.02.2017 statt. In der Zeit von September 2014 bis Oktober 2017 wurde die Klägerin insgesamt 16 Mal stationär im Krankenhaus aufgenommen.
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Mit Schreiben vom 31.01.2018 (Bl. 137ff der Akte) und 15.02.2018 (Anlage B 16, Bl. 187ff der Akte) wurde der Betriebsrat zu einer außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist angehört. Mit Schreiben vom 19.02.2018, das die Beklagte am selben Tag erhielt, äußerte der Betriebsrat Bedenken gegen diese Kündigung. Das Integrationsamt stimmte der beabsichtigten Kündigung unter dem 08.02.2018 zu (Anl. B2, Bl. 49ff der Akte). Mit Schreiben vom 23.02.2018 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich mit einer Auslauffrist bis zum 30.09.2018. Mit der am 06.03.2018 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage setzt die Klägerin sich hiergegen zur Wehr.
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Die Klägerin hat behauptet, bei dem Gespräch am 21.12.2017 sei ihr bei einem erneuten Rückfall die Kündigung angedroht worden. Als sie am 15.01.2018 erneut arbeitsunfähig wurde, habe sie aus Angst vor dieser Kündigung einen Rückfall erlitten. Das so genannte 3. Gespräch sei in Wirklichkeit ein 1. Gespräch nach der GBV Sucht. Das 5. Gespräch sei als 2. Gespräch zu werten. Nach einer durchgeführten Entwöhnungskur müsse das Verfahren bei erneuten Auffälligkeiten auf der 4. Stufe fortgesetzt werden.
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Die Klägerin hat beantragt,
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festzustellen, dass das Arbeitsfeldes der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 23.02.2018 aufgelöst wird.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte hat behauptet, für das Jahr 2014 Entgeltfortzahlungskosten i.H.v. 15.258,00 € und für das Jahr 2015 i.H.v. 13.745,60 € geleistet zu haben. Das Gespräch auf der 3. Stufe sei mit Einverständnis des Betriebsrats erfolgt. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass mit der Klägerin auch vor Inkrafttreten der GBV Sucht Gespräche mit einer vergleichbaren Zielsetzung geführt worden seien.
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Das Arbeitsgericht Berlin hat mit Urteil vom 07.12.2018 der Klage stattgegeben. Es hat dies damit begründet, dass die Interessenabwägung jedenfalls zu Gunsten der Klägerin ausfalle. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass nach § 11 der GBV Sucht nach einer durchgeführten Entziehungskur und einem erneuten Rückfall das Verfahren auf der Stufe 4 hätte fortgesetzt werden müssen. Dies sei nicht beachtet worden. Auf Basis der erweiterten Mitbestimmung hätte mit dem Betriebsrat eine Erörterung nicht stattfinden müssen, da dessen Stellungnahme erst nach Fristablauf eingegangen sei.
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Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Ihrer Ansicht nach sei nach einem 5. Gespräch der Stufenplan beendet. Die GBV Sucht sehe nicht vor, dass im Verfahren eine Stufe zurückzuspringen sei. Es liege ein sinnentleertes Arbeitsverhältnis vor. Da nach dem Vorbringen der Klägerin schon der Wechsel eines betrieblichen Ansprechpartners während des Praktikums zur Destabilisierung beigetragen habe, müsse sie als Arbeitgeberin bei jeder Veränderung im Arbeitsleben mit einem erneuten und ggfs. Jahre dauernden Rückfall der Klägerin rechnen.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 07.12.2018, Az. 17 Ca 3724/18, zugestellt am 11.12.2018, abzuändern und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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Berufung zurückzuweisen.
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Die Klägerin habe am 11.04.2016 die Entwöhnungskur nicht aus Gründen abgebrochen, die in ihrer Alkoholerkrankung gelegen hätten. Auslöser des Abbruchs sei vielmehr der Suizid eines weiteren Rehabilitanden und weitere Gründe gewesen. Mit dem Betriebsrat hätte auf Basis der Regelungen zur erweiterten Mitbestimmung eine Erörterung stattfinden müssen. Das Arbeitsgericht habe die Fristen falsch berechnet, denn dem Betriebsrat war die Anhörung am Donnerstag, 15.02.2018 zugegangen. Von einer negativen Gesundheitsprognose sei nicht auszugehen. Nachdem inzwischen erkannt wurde, dass ein psychisches Grundleiden Auslöser auch der Alkoholerkrankung gewesen sei, sei bei erfolgreicher Behandlung von erheblich weniger Fehlzeiten in der Zukunft auszugehen.
Entscheidungsgründe
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Die Berufung der Beklagten hatte Erfolg. Insofern war das arbeitsgerichtliche Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.
I.
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Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist daher zulässig.
II.
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Die Berufung ist auch begründet. Auf Basis der Annahmen des Arbeitsgerichts Berlin kann die Kündigung nicht als unwirksam gemäß § 626 BGB eingestuft werden. Die Kündigung ist insofern vielmehr wirksam (1.). Die Wirksamkeit der Kündigung scheitert auch nicht an einer mangelhaften Beteiligung des Betriebsrats (2.).
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1.
Die außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist vom 23.02.2018 ist gemäß § 626 BGB wirksam.
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1.1.
Eine außerordentliche Kündigung kann nach ständiger Rechtsprechung auch im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB gerechtfertigt sein.
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Regelmäßig ist dem Arbeitgeber aber die Einhaltung der Kündigungsfrist zuzumuten. In eng begrenzten Ausnahmefällen kommt jedoch auch eine außerordentliche Kündigung in Betracht, etwa wenn die ordentliche Kündigung aufgrund tarifvertraglicher oder einzelvertraglicher Vereinbarungen ausgeschlossen ist. In einer solchen Konstellation kann ein Sachverhalt, der bei einem Arbeitnehmer ohne Sonderkündigungsschutz nur eine ordentliche Kündigung rechtfertigen würde, gerade wegen der infolge des Ausschlusses der ordentlichen Kündigung langen Bindungsdauer einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB für den Arbeitgeber darstellen. Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen muss dann allerdings zu Gunsten des Arbeitnehmers zwingend eine der fiktiven ordentlichen Kündigungsfrist entsprechende Auslauffrist eingehalten werden (BAG 25.04.2018 – 2 AZR 6/18 – juris Rn. 16).
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Die Wirksamkeit einer Kündigung ist auch hier auf 3 Stufen zu prüfen. Zunächst ist eine negative Gesundheitsprognose erforderlich. Im Kündigungszeitpunkt müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen. Dabei haben Erkrankungen in der Vergangenheit indizielle Bedeutung für eine künftige entsprechende Entwicklung (1. Stufe). Im Rahmen der 2. Stufe müssen die prognostizierten Fehlzeiten geeignet sein, eine krankheitsbedingte Kündigung zu rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Dabei kommen neben Betriebsablaufstörungen auch wirtschaftliche Belastungen in Betracht, wenn Entgeltfortzahlungskosten zu erwarten sind, die für einen Zeitraum von mehr als 6 Wochen pro Jahr aufzubringen sind. Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung ist dann zu prüfen, ob die Beeinträchtigung vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden muss (3. Stufe) (BAG aaO Rn. 19).
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Dieser Prüfungsmaßstab ist auf allen 3 Stufen erheblich strenger bei einer außerordentlichen Kündigung. Sowohl die prognostizierten Fehlzeiten als auch die sich hieraus ergebenden Beeinträchtigungen der betrieblichen Interessen müssen deutlich über das Maß hinausgehen, welches eine ordentliche Kündigung sozial rechtfertigen könnte. Der Leistungsaustausch muss zwar nicht komplett entfallen, aber schwer gestört sein. Insofern bedarf es eines gravierenden Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung. Auf der 3. Stufe ist hierbei zu prüfen, ob die gravierende Äquivalenzstörung dem Arbeitgeber auf Dauer zuzumuten ist (BAG aaO Rn. 20).
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Häufigkeit und Dauer der krankheitsbedingten Fehlzeiten können im Einzelfall dazu führen, dass ein Einsatz des Arbeitnehmers nicht mehr sinnvoll und verlässlich geplant werden kann und der Beschäftigte damit zur Förderung des Betriebszwecks faktisch nicht mehr beiträgt. Die Aufrechterhaltung eines solchermaßen „sinnentleerten“ Arbeitsverhältnisses kann dem Arbeitgeber auch im Falle eines ordentlich nicht mehr kündbaren Arbeitnehmers unzumutbar sein (BAG 23.01.2014 – 2 AZR 582/13 – juris Rn. 28).
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1.2.
Bei Anwendung dieser Kriterien stellt sich die außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist im hiesigen Einzelfall als gerechtfertigt gemäß § 626 BGB dar.
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Im Rahmen der Prüfung der 1. Stufe ist davon auszugehen, dass die Klägerin auch künftig jährlich ungefähr 236 Arbeitstage fehlen wird. Bei einer fünftägigen Arbeitswoche und 52 Wochen plus einem Tag im Jahr fallen jährlich 261 mögliche Arbeitstage an. In den Jahren 2016 und 2017 war die Klägerin durchgängig erkrankt, so dass in dieser Zeit allein 522 Arbeitstage krankheitsbedingt anfielen. Für das Jahr 2014 hat die Beklagte 242 Arbeitstage und für das Jahr 2015 185 Arbeitstage als Fehlzeiten angegeben. Dies hat die Klägerin nicht rechtserheblich bestritten. Sie hat nur behauptet, dies sei nicht nachvollziehbar. Die Klägerin hätte jedoch anhand der ihr vorliegenden Fehlzeitenlisten selbst errechnen müssen, welche Fehlzeiten jeweils aufgetreten waren. Dies war nicht der Fall. Insofern gilt das Vorbringen der Beklagten zivilprozessual als zugestanden. Im Jahr 2018 war die Klägerin nur vom 5. bis 14. Januar (Sonntag) arbeitsfähig. Bei 39 möglichen Arbeitstagen bis zur Kündigung am 23.02.2018 ergeben sich somit weitere 33 Arbeitstage als Fehlzeiten. Bei insgesamt 983 mit Fehlzeiten belegte mögliche Arbeitstage und 4,15 Kalenderjahren ergeben sich durchschnittliche Fehlzeiten von 236 Arbeitstagen im Jahr. All diese Zeiten waren auch prognosefähig, denn die Klägerin hat zu keinem Zeitpunkt behauptet, dass irgendeine dieser Fehlzeiten nicht auf ihren Alkoholmissbrauch zurückzuführen war. Bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung hat die Klägerin auch nicht behauptet, ihre Erkrankung sei ausgeheilt oder es sei eine Therapie begonnen worden, bei der nunmehr davon auszugehen sei, dass die Alkoholsucht nicht mehr auftreten werde. Es fehlt schon der Vortrag einer Therapie. Es existiert nur eine Darstellung, wonach der Sohn der Klägerin diese am 22.01.2018 wegen eines Alkoholmissbrauchs stationär in eine Klinik verbracht habe. Von der Prognosefähigkeit ist auch deswegen auszugehen, weil bei der Klägerin vorangegangene Entwöhnungsversuche gescheitert waren oder von ihr abgebrochen wurden. Die hier angenommenen Fehlzeiten von 236 Arbeitstagen liegen auch dann ganz erheblich über dem üblichen 6-Wochenzeitraum, wenn bei anderer Berechnungsweise eventuell eine leicht geringere Anzahl von Fehltagen pro Kalenderjahr zu errechnen wäre.
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Es ist auch festzustellen, dass eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen der Beklagten auf der 2. Stufe vorliegt. Das Arbeitsverhältnis ist sinnentleert. Allenfalls im Umfang von ca. 10 % der möglichen Arbeitstage kann bei einer Durchschnittsbetrachtung der letzten 4,15 Kalenderjahre eine Arbeitsleistung der Klägerin erwartet werden. Tatsächlich liegt noch ein weit geringerer Umfang vor, wenn man berücksichtigt, dass die Klägerin in den Jahren 2016, 2017 und bis zum Ausspruch der Kündigung überhaupt nur eine Arbeitsleistung an 6 Arbeitstagen erbracht hat, somit eine absteigende Tendenz zu beobachten ist. Bei einem solch minimalen Arbeitsvermögen kann der Einsatz der Klägerin nicht mehr sinnvoll geplant werden, zumal völlig unvorhersehbar ist, wann die Klägerin trotz ihres starken Alkoholmissbrauchs an einzelnen Tagen arbeitsfähig sein könnte. Jedenfalls trägt dieses geringe Restarbeitsvermögen faktisch nicht mehr zur Förderung des Betriebszwecks der Beklagten bei, so dass auch deswegen von einem sinnentleerten Arbeitsverhältnis auszugehen ist. Damit unterscheidet sich der hiesige Fall von anderen vom BAG entschiedenen Fällen, bei denen der Arbeitnehmer noch zu 2/3 des Jahres eingesetzt werden konnte, so dass das BAG das Kriterium „sinnentleert“ nicht für gegeben angesehen hat (BAG 23.01.2014 – 2 AZR 582/13 – juris Rn. 33).
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Für eine Arbeitnehmerin, die – wie die Klägerin im hiesigen Fall – nur noch ganz wenige Tage pro Jahr für eine Arbeitsleistung zur Verfügung steht, kann sinnvoll eine zu bearbeitende Arbeitsmenge nicht vorgehalten werden. In einem solchen Fall ist es sinnvoll, den Arbeitsplatz nicht dauerhaft für die Klägerin weiter frei zu halten.
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Die Interessenabwägung ist auch zulasten der Klägerin vorzunehmen. Hierbei sind zu Gunsten der Klägerin vor allem ihr hohes Lebensalter, die lange Betriebszugehörigkeit, die Gleichstellung mit einer schwerbehinderten Person und die Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt insbesondere als Alkoholikerin zu berücksichtigen. Demgegenüber ist jedoch das Interesse der Beklagten als höher einzuschätzen, jedenfalls ein sinnvolles Arbeitsverhältnis durchzuführen zu können. Es kann ihr nicht zugemutet werden, bis zum Renteneintritt ein Arbeitsverhältnis fortzusetzen, von dem sie praktisch nichts hat. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin insgesamt die Möglichkeit hatte, nicht nur mit einer Entwöhnungsmaßnahme, sondern mit insgesamt 3 Entwöhnungsmaßnahmen ihre Alkoholsucht zu bekämpfen. Auch ist zu berücksichtigen, dass jedenfalls zuletzt die Erbringung von Arbeitsleistungen nur noch möglich war, indem ein längeres Eingewöhnungspraktikum vorausging, was die Beklagte mit personellen Ressourcen bis hin zu einem „Einzelcoaching“ ebenfalls zusätzlich unterstützen musste. Darüber hinaus wirkt sich zulasten der Klägerin aus, dass sich Ihre gesundheitliche Entwicklung und ihre Arbeitsfähigkeit in den letzten Jahren zunehmend negativ entwickelt haben. Damit ist künftig eher mit größeren Schwierigkeiten als mit einer abnehmenden Tendenz zu rechnen.
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Im Gegensatz zur Auffassung der Klägerin und der Rechtsansicht im Urteil der ersten Instanz ist im Rahmen der Interessenabwägung nicht zu berücksichtigen, dass ein Verstoß gegen die GBV Sucht vorliegt, denn dieser ist nicht gegeben.
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Das Arbeitsgericht geht davon aus, dass nach § 11 S. 2 GBV Sucht nach Durchführung einer Entziehungskur und anschließendem Rückfall nunmehr das Verfahren auf den niedrigeren 4. Stufe wieder fortzusetzen sei. Dies lässt sich unter Heranziehung der vom Arbeitsgericht zutreffend wiedergegebenen Kriterien für die Auslegung einer Betriebsvereinbarung nicht annehmen, auch wenn dies bei isolierter Berücksichtigung des Wortlauts der Regelung möglich wäre. Nach Sinn und Zweck und auch wegen der Wortwahl an anderen Punkten der Gesamtbetriebsvereinbarung ist vielmehr davon auszugehen, dass nach einem letzten 5. Gespräch von der Beklagten keine weiteren Stufen vor Ausspruch einer Kündigung mehr eingehalten werden müssen. Wäre die Ansicht des Arbeitsgerichts zutreffend, bräuchte der jeweilige Arbeitnehmer nur (weiter) therapiebereit sein, um erneut den Einstieg in die 4. Stufe zu erreichen. Bei jeweiliger Therapiebereitschaft und anschließend durchgeführter Therapie käme das Stufenverfahren in dieser Konstellation nie zu einem Ende. Dies wäre derart ungewöhnlich, dass hierfür deutliche Anzeichen in der GBV vorliegen müssten, an denen es fehlt. Einer solchen Auslegung stehen auch die Regelungen in der 4. Stufe entgegen: Im 6. Spiegelstrich unter „Inhalt des Gesprächs“ wird ausgeführt, dass dem/der Beschäftigten angekündigt wird, dass es bei erneuter Auffälligkeit „zu einem letzten Stufengespräch“ kommt. Auch zur 5. Stufe wird unter „Ablauf“ festgehalten, dass es insofern wegen der erneuten Auffälligkeiten „zum letzten Gespräch des Stufenplans“ komme. Beides wäre nicht zutreffend, wenn der Rechtsansicht der Klägerin und des Arbeitsgerichts zu folgen wäre. § 11 kann auch dahingehend ausgelegt werden, dass nach Satz 1 bei erneuten Auffälligkeiten der Stufenplan (regelmäßig) auf der nächsten Stufe fortgesetzt wird. Wurde aber schon einmal eine Therapie durchgeführt und kommt es dann zu weiteren Auffälligkeiten, dann werden Stufen eventuell übersprungen und eine Fortsetzung erfolgt direkt auf Stufe 4. Eine solche Auslegung wird dem Sinn und Zweck der GBV Sucht auch gerecht. Sie ist erkennbar darauf ausgelegt, den alkoholabhängigen Arbeitnehmer zu der Einsicht zu bewegen, dass auch in seinem Interesse eine Therapie durchzuführen ist. Bis einschließlich zur 4. Stufe wird er zwar nur auf die Sinnhaftigkeit einer Therapie hingewiesen, doch führt die mangelnde Durchführung noch nicht zu einer Kündigung. Erst im 5. Gespräch wird der Betroffene vor die Alternative gestellt, eine Kündigung zu erhalten oder sich unmittelbar in eine Therapie zu begeben. Das Verfahren eskaliert von Stufe zu Stufe. Nach der Rechtsprechung muss dem an Alkoholsucht erkrankten Arbeitnehmer vor Ausspruch einer Kündigung nur einmalig die Chance einer Erziehungskur angeboten werden (BAG 17.06.1999 – 2 AZR 639/98 – juris). Die hiesige Betriebsvereinbarung geht darüber hinaus. Hat der Arbeitnehmer auf Basis einer niedrigeren Stufe eine Entziehungskur durchgeführt und wird danach rückfällig, sieht § 11 S. 2 GBV Sucht nicht eine Kündigungsmöglichkeit vor, sondern nur die Durchführung des Verfahrens auf der 4. Stufe. In bestimmten Konstellationen hat der betroffene Arbeitnehmer somit die Chance, zweimal eine Entziehungskur durchzuführen. Mehr ist nach hiesiger Auffassung nicht geboten.
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Soweit die Klägerin rügt, dass nach Einführung der GBV Sucht im Dezember 2015 bei ihr das Verfahren von Anfang an und auf der 1. Stufe hätte beginnen müssen, kann dem nicht gefolgt werden. Die Betriebsvereinbarung sieht keinerlei Übergangsregelungen für die Fälle vor, bei denen Arbeitnehmer schon vor Inkrafttreten der GBV länger alkoholbedingt auffällig waren. Es ist davon auszugehen, dass insofern eine unbewusste Lücke vorliegt, denn die Betriebsvereinbarung will nicht gewährleisten, dass ohne Sinn und Zweck alle Stufen zu durchlaufen sind. Dies folgt schon aus § 11 S. 2, wonach jedenfalls bei „Neufällen“ automatisch Stufen zu überspringen sind, wenn der rückfällige Arbeitnehmer schon eine Therapie durchgeführt hat. Die Klägerin hatte in 2014 bis zum 25.12.2014 eine Entwöhnung durchgeführt. Bei Inkrafttreten der Betriebsvereinbarung war sie rückfällig geworden. Insofern hätte man nach Sinn und Zweck der GBV Sucht bei ihr direkt das Verfahren auf der 4. Stufe beginnen können. Soweit am 22.08.2016 hingegen ein Gespräch der 3. Stufe durchgeführt wurde, kann sich dies jedenfalls nicht zum Nachteil der Klägerin ausgewirkt haben, da die Beklagte insofern gezwungen war, weitere Stufen durchzuführen. Danach hat die Beklagte das Verfahren ordnungsgemäß durchgeführt. Die Teilnahme am 4. Gespräch hat die Klägerin verweigert. Auch wenn sie nicht als verpflichtet zur Teilnahme angesehen werden könnte, liegt darin dann jedenfalls eine Verletzung eigener Obliegenheiten, nicht jedoch eine Pflichtverletzung der Beklagten.
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2.
Die von der Klägerin angenommene mangelhafte Beteiligung des Betriebsrats führt nicht zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung.
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2.1.
Die Unwirksamkeit der Kündigung ergibt sich nicht aus einer mangelhaften
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Beteiligung des Betriebsrats nach § 102 BetrVG.
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Die schriftliche Anhörung des Betriebsrats unter dem 15.02.2018 (Anlage B 16, Bl. 187ff der Akte) ist vielmehr ordnungsgemäß. Die Sozialdaten der Klägerin sind enthalten. Die nähere Begründung ergibt sich aus dem beigefügten Anschreiben an das Integrationsamt. Der Umfang der Krankentage, die Klinikaufenthalte und auch die Phase der Arbeitserprobung Ende 2017 sind mitgeteilt. Angesichts der wenigen tatsächlichen Arbeitstage wird auf die Sinnentleerung des Arbeitsverhältnisses hingewiesen. Soweit die Klägerin rügt, dem Betriebsrat sei für die Erkrankung ab 15.01.2018 ein alkoholbedingter Grund mitgeteilt worden, kann offen bleiben, ob diese Einschätzung unzutreffend war. Die Klägerin gibt selbst unter Verweis auf eine Diagnoseliste (Bl. 323 der Akte) an, im Sommer 2018 an einer alkoholbedingten Gastritis erkrankt gewesen zu sein. Dort ist derselbe Diagnoseschlüssel angegeben wie für den Zeitraum 15.01.2018 bis 19.01.2018. Angesichts der stationären Einweisung in ein Krankenhaus schon am 22.01.2018 liegt jedenfalls eine Vermutung sehr nah, dass die vorangegangene Erkrankung auch mit einem Alkoholmissbrauch im Zusammenhang stand. Eine bewusste Falschinformation des Betriebsrats kann insofern nicht angenommen werden. Angesichts der ungewöhnlich hohen alkoholbedingten Fehlzeiten der Klägerin im hiesigen Einzelfall kann eine Fehlinformation über die Krankheitsursache für 5 Tage jedenfalls die Betriebsratsanhörung nicht unwirksam machen. Auch dem Betriebsrat kam es in seiner Stellungnahme vom 19.02.2018 erkennbar auf diese kurze Erkrankung nicht an.
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Bei Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung mit notwendiger Auslauffrist ist nach ständiger Rechtsprechung der Betriebsrat so zu beteiligen, als läge eine ordentliche Kündigung vor. Insofern ist ihm die volle Frist einer Woche zur Stellungnahme gemäß § 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG einzuräumen (BAG 12.01.2006 – 2 AZR 242/05 – juris Rn. 17). Diese Frist ist hier eingehalten, denn der Betriebsrat wurde am 15.02.2018 beteiligt, während die Kündigung unter dem 23.02.2018 gefertigt wurde.
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2.2.
Soweit die Klägerin rügt, dass das Verfahren zur erweiterten Mitbestimmung nicht eingehalten wurde, trifft dies zu.
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Die Anhörung des Betriebsrats erfolgte am Donnerstag, den 15.02.2018. Die dreitägige Anhörungsfrist nach der Protokollnotiz Nr. 3 zu § 4 (3) a) der Gesamtbetriebsvereinbarung „Erweiterte Mitbestimmung“ (Anl. K4, Bl. 87ff der Akte) lief somit am 19.02.2018 (Montag) ab. An diesem Tag gingen die Bedenken des Betriebsrats bei der Personalabteilung ein. Dies war vom Arbeitsgericht übersehen worden. Gemäß der Protokollnotiz Nr. 3 hätte insofern eine Erörterung stattfinden müssen. Ein Verlangen des Betriebsrats hierzu ist nicht Tatbestandsmerkmal. Dazu ist es nicht gekommen. Dies führt aber trotzdem nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Wird – wie hier – im Rahmen einer freiwilligen Betriebsvereinbarung eine erweiterte Mitbestimmung ähnlich wie in § 102 Abs. 6 BetrVG eingeführt, dann muss in der Betriebsvereinbarung selbst hinreichend deutlich geregelt werden, dass dies bei einem Verstoß ähnlich wie in § 102 Abs. 1 S. 2 und 3 BetrVG zur Unwirksamkeit der Kündigung führen soll (BAG 29.06.2017 – 2 AZR 302/16 – juris Rn. 44; BAG 06.02.1997 – 2 AZR 168/96 – juris Rn. 21). Die Gesamtbetriebsvereinbarung regelt zahlreiche weitere Mitbestimmungstatbestände bis hin zu wirtschaftlichen Angelegenheiten. Für den Fall der Verletzung der Regeln zur erweiterten Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten ist eine Sanktion ausdrücklich nicht geregelt. Sie kann auch nicht aus Sinn und Zweck der Betriebsvereinbarung geschlossen werden. Nach § 9 Abs. 2 ist vielmehr geregelt, dass die beteiligten Gewerkschaften rechtlich verbindlich sicherstellen, dass diese freiwillige Betriebsvereinbarung ver.di binden wird. Individualrechtliche Unwirksamkeitsgründe werden gerade nicht aufgeführt. Daher kann sich ein Verstoß individualrechtlich auch nicht auswirken.
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Die Klägerin rügt ferner, dass in der Gesamtbetriebsvereinbarung in gleichheitswidriger Weise geregelt worden ist, dass bei der außerordentlichen Kündigung der Betriebsrat
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nur die Möglichkeit erhält, Bedenken zu äußern und diese erörtern zu lassen, während
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bei der ordentlichen Kündigung bei verweigerter Zustimmung des Betriebsrats die Einigungsstelle einzuschalten ist. Nach hiesiger Auffassung dürfte hierin schon keine gleichheitswidrige Regelung zu sehen sein. Letztendlich kann dies jedoch offen bleiben. Selbst wenn insofern die Beklagte in fehlerhafter Weise das Einigungsstellenverfahren nicht durchgeführt hätte, kann sich dies nach den vorangegangenen Erwägungen individualrechtlich nicht auswirken, weil eine Unwirksamkeitsregelung in der Gesamtbetriebsvereinbarung fehlt.
III.
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Die Klägerin hat als unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen (§ 91 ZPO).
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 72 Abs. 2 ArbGG) liegen nicht vor. Insofern ist gegen die hiesige Entscheidung ein Rechtsmittel nicht gegeben.
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